Folgen

Gewalt gegen Frauen

Folgen ungleicher Machtstrukturen

Geschlechtsspezifische Gewalt ist nicht nur der Schlag ins Gesicht. Auch Phänomene wie Hate Speech, Stalking oder sexuelle Belästigung sind Formen von Gewalt gegen Frauen. Die verschiedenen Erscheinungsformen von physischer, psychischer und sexueller Gewalt sind das Resultat bestehender ungleicher Machtstrukturen, die sowohl auf der gesellschaftlichen Ebene als auch in privaten Beziehungsverhältnissen wirken. Dementsprechend sind es vor allem Frauen, die von den verschiedenen Formen von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen sind. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) benennt Gewalt als eines der größten Gesundheitsrisiken für Frauen.

Interview mit Prof. Dr. Rolf Pohl

In einem Interview mit dem Soziologen und Psychologen Prof. Dr. Rolf Pohl sprechen wir über die Hintergründe von virtueller und realer Gewalt gegen Frauen.

Gewalt gegen Frauen wird in den Medien oft als »Familiendrama« verharmlost und damit in den privaten Bereich verbannt, ohne dass die Frage nach den gesellschaftlichen Ursachen dafür gestellt wird. Wie ist das Phänomen der Gewalt gegen Frauen in den Gesamtkontext gesellschaftlicher Machtverhältnisse eingebettet?

Trotz aller geschlechterpolitischen Fortschritte sind wir in Gleichstellungsfragen längst noch nicht so weit, wie uns gerne weisgemacht wird. Oft geschieht das mit der empört vorgetragenen Forderung, nun müsse doch endlich mal Schluss sein mit der Frauenbevorzugung, dem angeblich männerhassenden Feminismus und überhaupt: mit diesem ganzen »Gender-Unfug«. Unterschlagen und geleugnet wird dabei, dass wir immer noch in einer asymmetrischen Geschlechterordnung mit männlicher Vormacht leben. Für die Soziologin Sylka Scholz ist damit eine »geistige und moralische Vorherrschaft von männlichen Wert- und Ordnungssystemen« gemeint, die an eine hierarchische Kultur der Zweigeschlechtlichkeit gebunden ist und die einen grundlegenden Kern aufweist: Das »Männliche gilt als Norm und gegenüber dem Weiblichen als überlegen«, das Weibliche dagegen weiterhin als untergeordnet, nachrangig und weniger wert.

Dieses System der männlichen Vorherrschaft ist kulturell und in den Wahrnehmungs- und Einstellungsmustern der Einzelnen tief verankert. Die immer wieder auftauchenden Varianten von Antifeminismus, die nach wie vor große Verbreitung von alltäglichem Sexismus, vor allem aber das unverändert hohe Aufkommen aller Formen von Gewalt gegen Frauen zeigen das hartnäckige Überdauern dieser asymmetrischen Geschlechterverhältnisse und der damit einhergehenden latenten Geschlechternormen. Vor diesem Hintergrund ist etwa die in Polizei, Justiz und vielen Medien verbreitete entgeschlechtlichte Bezeichnung der Tötung von Frauen durch Partner oder Ex-Partner als »Beziehungstaten«, »Familiendramen« oder »Partnerschaftskonflikte« – und nicht als Femizide, die von einem tief sitzenden Frauenhass motiviert sind – skandalös.

Wir leben immer
noch in einer asymmetrischen Geschlechterordnung mit männlicher Vormacht.

Gewalt gegen Frauen, Mädchen und nicht binäre Menschen ist weltweit eine der am häufigsten verbreiteten Gewaltformen. Welche Erscheinungsformen hat Gewalt gegen diese Personengruppen?

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert direkte äußere Gewalt als tatsächlichen oder angedrohten absichtlichen Gebrauch von physischer oder psychischer Kraft oder Macht gegen eine andere Person, die tatsächlich oder wahrscheinlich seelische Störungen, Verletzungen oder gar deren Tod zur Folge haben.

Nach dieser Definition gehören zu der hier thematisierten Gewalt aufgrund des Geschlechts das reale oder digitale Mobbing, anzügliche Bemerkungen, obszöne Witze, unerwünschte Berührungen, das sogenannte »Begrapschen«, sexuelle Anmache und andere Belästigungen, sexuelle und sexualisierte Gewalt bis hin zum zerstörerischen Übergriff durch Vergewaltigungen sowie als Spitze der damit beabsichtigten Auslöschung der Frau als eigenständiges Subjekt: ihre Tötung. Dabei ist zu erkennen, dass die Grenzen zwischen diesen Erscheinungsformen nicht starr, sondern fließend sind.

Kreislauf der Gewalt

Gewalt gegen Frauen resultiert nicht nur aus der ihr zugrundeliegenden Geschlechterhierarchie, sondern bestätigt diese zugleich – so zementiert das Phänomen genau die Zustände, aus denen heraus es überhaupt erst entstanden ist. Geschlechtsspezifische Gewalt hat weitreichende Konsequenzen, sie schadet nicht nur den Frauen und Mädchen selbst, auch ihre Familien und die Gesellschaft sind davon betroffen. Zudem setzt sich Gewalt oft über Generationen hinweg fort.

Wie ordnen Sie Online-Hass im Internet und digitale Gewalt gegen Frauen in den Kanon der Gewaltformen ein?

Das Internet wirkt wie ein Katalysator für die rasante Verbreitung von Misogynie. Es handelt sich um einen offenen, aber weitgehend »geschützten« Raum, in dem insbesondere gegen den weiblichen Körper und das vermeintlich »hinterhältige« Wesen von Frauen gerichtete Feindseligkeiten ungehindert kommunikativ zum Ausdruck gebracht und unter Gleichgesinnten ausgetauscht werden können.

Gruppenpsychologisch wird dabei ein Gefühl der Bedeutung, der Größe und des Zusammenhalts durch ein gemeinsames klares Feindbild erzeugt und verstärkt. Dieser virtuell ausgetauschte Hass gehört zu den notwendigen Vorstufen und verstärkenden Begleiterscheinungen von realer Gewalt. Das geht über die Pick-Up-Artists und die Incels bis hin zu den bekannten Rechtsterroristen wie in Oslo / Utoya, Christchurch, Halle, Hanau usw., deren Antifeminismus und Frauenhass ohne ihre Radikalisierung in einschlägigen Internet-Foren und Imageboards nicht erklärbar sind.

Reflexhafte Täter-Opfer-Umkehrungen dienen immer der Schuldabwehr und der Entlastung.

Wer sind die Hauptakteure von Gewalt gegen Frauen im Netz? Wie organisieren sie sich?

Bei diesen Plattformen handelt sich um lose miteinander verknüpfte maskulinistische (männerrechtliche), antifeministische, verschwörungsideologische und rechtsextremistische Webseiten mit fließenden personellen und ideologischen Überschneidungen. Hier zeigt sich erneut, dass und wie stark rechtes Denken mit Frauenhass Hand in Hand gehen. Aber Hauptakteure dieser lockeren Vernetzung, die sich etwa mit klassischen Führern bei realen Massenbewegungen vergleichen lassen, sind hier, außer bei ein paar kleinen Möchtegern-Führern, ebenso wenig auszumachen wie eine verbindliche Organisationsstruktur.

Und dennoch finden wir hier einige Grundzüge der klassischen Massenpsychologie in moderner Gestalt bestätigt: Erstens müssen sich Angehörige von Massen oder Großgruppen nicht unbedingt real versammeln. Das heißt, es kann auch virtuelle Massen geben. Zweitens ist nicht immer eine loyale Gefolgschaft erzeugende Führerfigur erforderlich. Diese Bindungsfunktion kann auch eine gemeinsame Ideologie oder Weltanschauung übernehmen. Und drittens können auch starke negative Affekte, wie vor allem der Hass, einen solchen emotionalen Gruppenzusammenhalt stiften. Alle diese drei Bedingungen sind in unserem Fall erfüllt.

Die Spitze des Eisbergs

Einer 2020 veröffentlichten Studie des BMFSFJ zufolge ist jede dritte Frau in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben von physischer und / oder sexualisierter Gewalt betroffen, und etwa jede vierte Frau wird mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt durch einen aktuellen oder früheren Partner. Eine wirksame Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen setzt voraus, dass wir bei den Strukturen und Bedingungen ansetzen, welche sie ermöglichen. Diese sind immer noch ein weitgehend blinder Fleck in der Debatte um geschlechtsspezifische Gewalt. So gesehen ist die Gewalt gegen Frauen die Spitze des Eisbergs, die extremste Ausprägung des Patriarchats, das sämtliche Strukturen unserer Gesellschaft durchzieht.

Inwiefern hängt Gewalt gegen Frauen mit (problematischen) Männlichkeitsvorstellungen zusammen?

Dieser Zusammenhang ist ein grundlegendes Kennzeichen unserer Geschlechterordnung. In Gesellschaften mit männlicher Vorherrschaft unterliegen Männer nach wie vor dem mehr oder weniger starken Druck, nicht nur Unterschiede, sondern vor allem ihre Überlegenheit gegenüber den Frauen zu betonen, sich damit als das »wichtigere« Geschlecht zu »setzen« und diese Selbstsetzung im vermeintlichen »Notfall« zu beweisen. Allerdings basiert das Gefühl männlicher Überlegenheit auf der unbewussten Abwertung und Herabsetzung von Frauen.

Doch, insbesondere auf dem Feld der Sexualität, ist der Mann gegenüber Frauen (scheinbar) einer »fremden« Kontrolle unterworfen. Daher erweist sich der Wunsch nach Autonomie und Erhabenheit als trügerische Illusion. Vor diesem Hintergrund ist Männlichkeit ein fragiler und krisenanfälliger Zustand, der bei Konflikten, die immer auch als Krise der Männlichkeit erlebt werden, notfalls mit Gewalt repariert werden »muss«. Hier liegt psychologisch eine der wichtigsten Quellen von Gewalt gegen Frauen.

Männlichkeit ist ein fragiler und krisenanfälliger Zustand, der bei Konflikten, die immer auch als Krise der Männlichkeit erlebt werden, notfalls mit Gewalt repariert werden »muss«.

Wie lässt sich dem Problem des »Victim-Blaming« beikommen, also dem Problem, dass Frauen, die von sexuellen Übergriffen oder Gewalterfahrungen berichten, oft nicht geglaubt wird bzw. sie für irgendwie »mitschuldig« gehalten werden?

Hier muss ein grundlegendes Umdenken stattfinden, um aus dem dabei nach wie vor geltenden Kreislauf von Männerkumpanei auszubrechen. Reflexhafte Täter-Opfer-Umkehrungen dienen immer der Schuldabwehr und der Entlastung. Wenn sie von den eigenen Partnern, von Polizisten, Juristen und Journalisten, die mit einem solchen Fall befasst sind, geteilt werden, dienen sie immer auch der Selbstentlastung. Daher muss nicht nur im Einzelfall, sondern grundsätzlich deutlich gemacht werden, dass beim »Victim-Blaming« die gleichen ambivalenten und feindseligen Einstellungen gegenüber Frauen sowie die damit einhergehenden typischen Abwehrmechanismen zur Rettung und Bestätigung der Männlichkeit zum Ausdruck kommen wie beim Täter selbst.

13 %

Laut einer 2009 veröffentlichten Studie [1] werden jährlich etwa 8000 Vergewaltigungen in Deutschland zur Anzeige gebracht. In lediglich etwas mehr als 1000 Verfahren führt diese Anzeige zu einer Verurteilung, was einer Verurteilungsquote von 13% entspricht. Diese geringe Verurteilungsquote mag auch einer der vielen Gründe dafür sein, dass wenige Frauen sexuelle Übergriffe oder Körperverletzungen überhaupt zur Anzeige bringen. Dementsprechend kann man davon ausgehen, dass die Dunkelziffer an Vergewaltigungsfällen noch um ein Vielfaches höher ist als die Zahl der angezeigten Fälle.

Zum Phänomen der Gewalt gegen Frauen gehört es, dass es für die Opfer oft schwierig ist, sich anderen anzuvertrauen oder Hilfe zu suchen – insbesondere, wenn sie mit den Gewalttätern in einer Beziehung leben. Warum ist das so? Was kann man tun, um es ihnen zu erleichtern?

Eine Antwort auf diese Frage zu geben ist für mich als Mann im Grunde vermessen. Dennoch, bei aller Vorsicht, eine Andeutung: Bekannt sind mehrere Gründe, warum sich weibliche Gewaltopfer nicht oder nur selten über die Taten mitteilen, sich Hilfe holen oder Anzeige erstatten. Hier wird oft auf Schamgefühle verwiesen, die ein Stück weit auch darauf hinweisen können, wie sehr das Opfer selbst von der männlichen Notwehr-Logik des Täters, nach dem Muster »bin ich nicht doch selbst schuld«, beeinflusst ist.

Wichtig aber ist insbesondere die bekannte und immer wieder bestätigte Erfahrung der angesprochenen Männersolidarität mit der Tendenz zur Täter-Opfer-Umkehr. Die Angst, entwürdigt und damit zum zweiten Mal zum Opfer gemacht zu werden, muss verstanden, akzeptiert und zum Hebel wirksamer Gegenmaßnahmen werden. Grundsätzlich wird das aber nicht oder nur schwer möglich sein, solange die tieferen Strukturen unserer nach wie vor hierarchischen Geschlechterordnung grundsätzlich unangetastet bleiben.

Weitere Informationen

Es gibt viele Orte, an denen Opfer von physischer, psychischer oder sexueller Gewalt Hilfe finden können. Die Initiative des BMFSFJ bündelt auf ihrer Website den Zugang zu einer Vielzahl an bundesweiten Hilfe- und Beratungsangeboten:

www.stärker-als-gewalt.de

Wir möchten alle Betroffenen dazu ermutigen, sich Unterstützung zu suchen. Auch diejenigen, die selbst nicht betroffen sind, bitten wir, Zivilcourage zu zeigen und Betroffenen Hilfe und Unterstützung anzubieten.

#zeichensetzen
Mehr als Symbolpolitik!

#zeichensetzen versteht sich als bewusste Doppeldeutigkeit – denn eine gendergerechte Sprache ist nur der Anfang! Poste deine Fragen, Wünsche oder Forderungen unter unserem Hashtag #zeichensetzen oder schicke uns eine E-Mail mit deiner Geschichte an info@zeichensetzen.jetzt und werde Teil der Kampagne!

Folge uns auf Instagram
Instagram@zeichensetzen.jetzt